Für Eltern
“Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die Gewaltigste.”
Heinrich Heine
Ermutigen Sie Ihre Kinder zu lesen. Gerade auch historische Thematiken sind in aktuellen Kinder- und Jugendbüchern gut aufgearbeitet. Ihre Kinder können dort vieles neues entdecken. Besonders spannend ist es, wenn Sie dies gemeinsam tun. Um Sie in zu unterstützen finden Sie auf dieser Seite alle nötigen Hintergrundinformationen über die Thematiken “Erinnerungen, DDR und Wende in der Kinder- und Jugendliteratur”. Ihr Kind beschäftigt sich vielleicht schon mit den Artikeln, die für Kinder ausgelegt sind. Dann können Sie ihr Hintergrundwissen gerne auffrischen, um ihr Kind in diesem Lernprozess zu begleiten und gemeinsam spannende neue bzw. alte Welten zu erforschen. Sie finden weiter unten, die sich jeweils mit verschiedenen inhaltlichen Aspekten der Thematiken beschäftigen.
Alina Blinzler
Vorstellungen von und über die DDR in Kinder- und Jugendliteratur
Kollektives Gedächtnis
Die Erinnerung an vergangene Ereignisse ist unabdingbar für die Identitätsstiftung (vgl. Spinner 2016: 29). Seit den 1920er Jahre prägte der französische Soziologe Maurice Halbwachs den Begriff des kollektiven Gedächtnisses. Damit gemeint ist das Gedächtnis einer Menschengruppe, das gemeinsame Erinnerungen aufbewahrt. Für die Entstehung einer kollektiven Identität bildet das gemeinsame Erinnern an Vergangenes den Ausgangspunkt (vgl. Neumann 2010: 50). Dabei versucht das Kollektivgedächtnis einen Einklang von Gegenwart und Vergangenheit zu schaffen, nämlich in Geschichten an die Ereignisse zu erinnern, die eine Gemeinschaft stiften können. Die unterschiedlichen Gruppen- und Kollektivgedächtnisse innerhalb einer Gesellschaft wählen unterschiedliche Elemente aus und bewerten diese auch unterschiedlich. Während sich einige Erinnerungskonzepte durchsetzen, werden andere verdrängt. In pluralen Gesellschaften besteht die Möglichkeit, dass diese im vorherrschenden kollektiven Gedächtnis nach und nach berücksichtigt werden (vgl. Gansel 2010: 18f).
Literatursystem DDR
Literarische Texte leisten einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungsbildung und Identitätsstiftung (vgl. Neumann 2010: 50). In einer geschlossenen Gesellschaft wie der DDR wurden nur literarische Texte veröffentlicht, die der Ideologie entsprachen. Kritische Texte hatten keine Chance. „Für die DDR und ihre Literatur wurden im diachronen Prozess sukzessive Erinnerungen ausgeschlossen, die angetan waren, eine andere Geschichte von der DDR zu erzählen, als sie im kollektiven […] Gedächtnis verfestigt wurde“ (Gansel 2010: 20).
Aspekte der Darstellung von Erinnerungen an DDR und Wende
Die ersten literarischen Texte und Filme in den 1990er Jahren verarbeiteten den Alltag in der DDR auf komödiantische Weise. Gansel führt aus, dass Erinnerungen das Vergangene nicht wirklichkeitsgetreu abbilden können. Das Erinnern an Vergangenes wird später aus Sicht der dann aktuellen Gegenwart gesehen und entsprechend beurteilt. Hinzu kommt, dass die eigenen Erinnerungen von Geschichten anderer Menschen, von Filmen und Romanen beeinflusst werden. Als weiteren Aspekt nennt Gansel die psychische Befindlichkeit in der sich der Erinnernde befindet. Dabei ist es ein großer Unterschied, ob es sich um Erinnerungen an ein traumatisches Erlebnis oder um eine banale Alltagssituation handelt, mit der kein besonderes Gefühlsmoment verbunden ist. Traumatisches wird sehr viel differenzierter erinnert und auch diese Erinnerungen werden von späteren Emotionen verändert. Diese Aspekte führen zu einem Ringen um das Kollektivgedächtnis und zu unterschiedlichen literarischen Darstellungen der DDR und Wende. Es ist zu betonen, dass es Filme waren, die die nicht mehr existierende DDR erfolgreich darstellten und nicht Romane. Die beiden Medien sind sehr unterschiedlich, denn Sprache geht in die Tiefe und Bilder sind flüchtig (vgl. Gansel 2010: 22ff).
Viele Menschen können über ihre traumatischen Erlebnisse weder sprechen noch schreiben. „Grundlegend für den Prozess des Erinnerns ist der Umstand, dass vergangene Erfahrungen sinnstiftend an gegenwärtige Verhältnisse angekoppelt werden müssen, weil nur dann das Ich gestärkt wird“ (Gansel 2010: 25). Ein narratologisches Wechselspiel von Vergangenem und Gegenwärtigem eignet sich gut für die Darstellung von Erinnerung. So entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen der Gegenwartsebene und der Vergangenheitsebene. Dieses Wechselspiel finden wir auch in Autobiographien. Im Zusammenhang mit Loests Autobiographie stellt Gansel fest, dass es sehr schwierig ist, ein stark erlittenes Trauma sinnstiftend einzubetten und offen davon zu berichten (vgl. Gansel 2010: 26ff).
Bedeutung der zeitgeschichtlichen Kinder- und Jugendliteratur
Heutzutage ist der Mauerfall für Kinder und Jugendliche ein „historisches Datum“ (Dettmar 2010: 52). Eine Erinnerung an die jüngste Vergangenheit haben sie nicht. Hier kommt der zeitgeschichtlichen Kinder- und Jugendliteratur, „die von Ereignissen in Deutschland um die Jahre 1989/1990 erzählt“ (Klumschlies 2014: 1) eine bedeutsame Rolle zu. Darüber hinaus thematisiert die zeitgeschichtliche Kinder-und Jugendliteratur auch den Nationalsozialismus und den Holocaust (vgl. Klumschlies 2014: 1). Die literarischen Texte der Kinder-und Jugendliteratur ermöglichen den jungen Lesenden einen Zugang zur jüngsten Vergangenheit (vgl. Dettmar/ Oetken 2010: 10). Ihnen werden u.a. Ereignisse aus der Vergangenheit sowie bestimmte Geschichtsbilder vermittelt (vgl. Dettmar 2016: 51). Dabei entscheidet die Kinder-und Jugendliteratur, was erinnert werden soll und vor allem auch, wie es erinnert werden soll (Dettmar 2010: 52). Hier macht es dabei einen Unterschied, ob es sich bei den Autoren um ostdeutsche oder um westdeutsche handelt. Während das Augenmerk ostdeutscher Autoren zumeist auf den Veränderungen, die letztendlich zum Ende der DDR führten, liegt, ergibt sich bei den westdeutschen Autoren eine Problematik, da es ihnen kaum möglich ist, Erinnerungen darzustellen, wenn sie diese nicht selbst erlebt haben (vgl. Klumschlies 2014: 2f).
Wiederkehrende Stereotype in literarischen Texten zur Wende
In den zeitgeschichtlichen literarischen Texten finden sich immer wieder Stereotype, die Gansel herausstellt und als „Täter-Opfer-Topos“, „Widerstandstopos“ und „Feindbild-Lehrer/Eltern“ bezeichnet (vgl. Gansel 2010: 35f). In literarischen Texten, in denen der „Täter-Opfer-Topos“ als Stereotyp zu finden ist, werden die Bürgerinnen und Bürger der DDR als Opfer des damaligen Regimes dargestellt, das „den Staat DDR in den Ruin getrieben und die Bevölkerung systematisch belogen“ hat (Gansel 2010: 36). Dabei wird nicht deutlich, wofür genau die DDR-Führung verantwortlich ist (vgl. Klumschlies 2014: 24). Im Gegensatz dazu steht der „Widerstandstopos“ „verbunden mit dem Herausstellen eines indirekten wie offenen Widerstands in der DDR“ (Gansel 2010: 37). Dies wird durch „Fragen von Flucht und Ausreise“, die die Bürgerinnen und Bürger in den literarischen Texten beschäftigen, hervorgehoben (Gansel 2010: 37). Ein weiterer Stereotyp findet sich in dem „Feindbild-Lehrer/Eltern“. Ihnen werden „Eigenschaften wie mangelnde Zivilcourage, Heuchlertum, Anpassung, Parteihörigkeit [sowie] Dogmatismus“ zugeschrieben (Gansel 2010: 39). Dabei besteht die Gefahr, dass die Lesenden diese Vereinfachungen und Klischees verallgemeinern und sich diese in ihrem Gedächtnis einprägen (vgl. Gansel 2010: 41). Aufgabe der Kinder-und Jugendliteratur ist es daher, das tatsächlich gelebte Leben dazustellen (vgl. Gansel 2010:45).
Eilika H. Doering
Literatur
- Dettmar, Ute: Geteiltes Leid, vereintes Glück? Geschichte(n) von Wende und Wiedervereinigung in der Kinder- und Jugendliteratur in erinnerungskultureller Perspektive. In: Dies. und Mareile Oetken (Hgg.): Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien. Heidelberg 2010, S. 51-75.
- Dettmar, Ute: Kindsein – Erinnern – Erzählen. (Selbst-)Beschreibungen von Kindheiten in ‚Wendezeiten‘ in erinnerungskultureller und genrationeller Perspektive. In: Carolin Führer (Hg.): Die andere deutsche Erinnerung. Tendenzen literarischen und kulturellen Lernens. Göttingen 2016, S. 39-58.
- Dettmar, Ute/Oetken, Mareile: Einleitung. In: In: Ute Dettmar und Mareile Oetken (Hgg.): Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien. Heidelberg 2010, S. 9-16.
- Gansel, Carsten: Atlantiseffekte in der Literatur? Zur Inszenierung von Erinnerung an die verschwundene DDR. In: Ute Dettmar und Mareile Oetken (Hgg.): Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien. Heidelberg 2010, S. 17-50.
- Kumschlies, Kirsten: Mauerfall und Wende. In: Franz, Kurt/Lange, Günter/ Payrhuber, Franz-Josef (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Meitingen 2014. S. 1-34.
- Spinner, Kaspar H.: DDR-Erinnerung und Identität. In: Führer, Carolin (Hg.): Die andere deutsche Erinnerung. Tendenzen literarischen und kulturellen Lernens. Göttingen 2016. S. 29-38.
21. Juli 2020 um 12:45 Uhr
Ich finde diesen theoretischen Beitrag für Eltern eine sehr gute Idee, damit auch Eltern sich mit der Thematik des Blogs noch einmal in etwas anderer Weise auseinander setzen können. Oft werden auf Internetseiten für Kinder- und Jugendliche, die Eltern nicht berücksichtigt, aber durch diesen Aspekt, der extra für die Erziehungsberechtigten ist, können auch diese sich einen Überblick über den Inhalt des Blogs verschaffen.
Besonders ansprechend und gelungen ist der Einführungstext, in dem die Eltern darauf angesprochen werden, ihre Kindern zum lesen zu ermutigen und sich in der Geschichte Deutschlands weiter zu bilden. Außerdem auch der Abschnitt des Fließtextes, wo es explizit um Kinder- und Jugendliteratur geht.
Viele Eltern würden wahrscheinlich gar nicht auf die Idee kommen, ihren Kindern Geschichtsbücher zu kaufen, aus Angst, dass die Inhalte nicht kindgerecht genug dargestellt und aufbereitet wurden. Diese beiden oben genannten Textausschnitte, klären Eltern auf und durch die, auf dem Rest des Blogs, vorgestellten Bücher, werden gleich Beispiele geboten, die für Kinder sehr gut geeignet sind (Beispiel: Fritzi war dabei!).
24. Juli 2020 um 13:08 Uhr
Hier kann ich Denise Meier nur zustimmen. Ich habe einen ähnlichen Beitrag in einem anderen Blog gesehen und fasse mir selber an den Kopf, dass wir nicht an so einen Beitrag gedacht haben. Ich finde sowas sehr wichtig, da Online Plattformen vielen Eltern keine Sicherheit garantieren können. Dieser Beitrag inspiriert nicht nur Kinder sondern auch Eltern diese Bücher zu lesen und eventuell gemeinsames Interesse zu erwecken. Auch der Einleitungsbeitrag der zur Motivation anregt spricht mich persönlich sehr an! Vielen Dank für so einen Beitrag
31. Juli 2020 um 20:02 Uhr
Ich finde es toll, dass ihr diese Rubrik mit aufgenommen habt und an direkt an die Eltern appelliert, dass sie ihre Kinder lesen lassen sollen und vor allem auch Texte mit historischen Hintergrund.
Eine sehr gelungene Rubrik des Blogs, die vielleicht auch das gemeinsame Interesse von Kindern und Eltern an einem Buch fördern kann.
Super!